Ägypten, Kairo 2007 – Menschen am Djebel-Muqattam
Angelika Baumann
Wir halten ein Taxi an und teilen dem Fahrer unser Ziel mit: Muqattam. Durch den chaotischen Straßenverkehr (die Stadt steht kurz vor dem Kollaps) geht es stadtauswärts Richtung Osten. Ob wir zur Zitadelle wollen, will der Taxifahrer wissen. Ja, da soll er uns raus lassen. Aber die Zitadelle besuchen wir heute nicht. Unser Weg führt uns genau in die gegenüberliegende Richtung auf die Berge zu.Nach einigem Suchen finden wir den richtigen Weg in das Stadtviertel, das einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen wird. Schon auf der Zufahrtsstraße fallen uns die vielen Pick-ups auf, die hoch beladen mit Müllsäcken unterwegs sind.
Gerade hält einer dieser Müllautos an und lädt seine Fracht auf einem großen Platz vor den ersten Häusern ab. Unmengen von Abfällen stapeln sich hier meterhoch. Ein beißender Geruch liegt in der Luft. Wir gehen weiter und erreichen die ersten Wohnhäuser des Stadtviertels. Die Erdgeschosse der Häuser sind offen. In diesen offenen Räumen stapeln sich wiederum Müllberge. – Auf den Müllbergen sitzen Menschen. Sie sind damit beschäftigt, die Dinge, aus denen die Berge bestehen, zu sortieren. Neue „sortierte“ Berge entstehen. Ich sehe einige Mädchen auf einem Weißblechdosen-Berg sitzen. Stück für Stück nehmen sie die Dosen in die Hand und entfernen mit einem Spezialwerkzeug die Böden und Deckel. Im nächsten Hauseingang wird Altpapier zu Türmen aufgestapelt. Glas, Plastik, Textiles, Eisen, Aluminium, Weißblech, alle nur erdenklichen Materialien kann man hier irgendwo wieder finden. Einige Meter weiter hören wir ein ratterndes Geräusch. Inmitten von Tausenden von PET-Flaschen steht eine Maschine. Frauen werfen die Flaschen hinein. Am anderen Ende kommt dann das geschredderte Produkt heraus.
Es hupt – ich schrecke auf. Ein Pick-up drängt zwischen einem Eselkarren und geparkten PKWs hindurch. Die Ladung des Pick-ups ist doppelt so hoch, wie das Fahrzeug selber. Aber schnell fahren kann es sowieso nicht, denn unzählige tiefe Schlaglöcher reihen sich aneinander – und asphaltiert ist die Straße ohnehin nicht. Auch zu Fuß muss man aufpassen, um nicht auf den überall herumliegenden Müll, der unweigerlich von den Müllwagen fällt, auszurutschen. Offensichtlich nimmt man uns nicht besonders wahr. Jedenfalls werden wir nicht angesprochen. Nur die Kinder rufen uns „hallo“ entgegen. Trotzdem komme ich mir wie ein Fremdkörper vor, während wir uns einen Weg durch die Straßen bahnen. Unweigerlich schießt mir der Begriff „Voyeurismus“ in den Kopf. „Habe ich hier überhaupt eine Daseinsberechtigung? Wohnhäuser, Geschäfte, Teehäuser in denen Männer bei einer Wasserpfeife dem geschäftigen Treiben auf der Straße zusehen. Ziegen, Eselskarren und streunende Hunde. Eigentlich ein ganz normales Stadtviertel, wenn da nicht der Müll allgegenwärtig wäre. Hier wohnen und arbeiten die „Rubbish-People“, die Müllmenschen, bekannt unter dem Namen „Zaballin“, wie sie auch abfällig genannt werden.
Im 19. Jahrhundert wanderten koptische Christen aus Mittelägypten nach Kairo ein und ließen sich hier am Rand der Muqattam-Berge nieder. Auf der Suche nach Arbeit begannen sie den Müll Kairos einzusammeln, um ihn anschließend zu sortieren, weiterzuverarbeiten und wieder zu verkaufen. Heute produziert die Stadt Tausende von Tonnen Müll pro Tag (unterschiedliche Quellen sprechen von bis zu 10.000 Tonnen pro Tag). Ungefähr ein Drittel davon wird von den Müllmenschen eingesammelt. Hier gibt es fast nichts, was nicht in irgendeiner Art und Weise weiter- oder wiederverwertet wird. Einiges wird sogar vor Ort zu neuen Gebrauchsgegenständen verarbeitet. So zum Beispiel die uns allen wohlbekannten und allerorts erhältlichen schwarzen Plastiktüten. Auch der organische Abfall findet Abnehmer. Er wird an die von den Kopten gehaltenen Schweine verfüttert. Nach entsprechender „Verwertung“ durch die Tiere, wandert das nun entstandene Produkt in eine Kompostieranlage und wird zu Dünger weiterverarbeitet.
Ich kann mich noch gut an die Kinder erinnern, die während unseres letzten Kairobesuchs vor drei Jahren mit Eselskarren im Stadtzentrum unterwegs waren und achtlos weggeworfenen Müll einsammelten. Das waren „Zabbalin-Kinder“. Heute sind die Eselskarren von der Regierung nicht mehr geduldet. Sie müssen deshalb bei Sonnenaufgang aus dem Stadtbild verschwunden sein. Sobald es hell wird fahren dann die Väter mit ihren Söhnen in den Pick-ups los, um die scheinbar nutzlosen Abfälle der Mega-City einzusammeln. Zu Hause angekommen, beginnt die Arbeit der Frauen und Mädchen. Mit bloßen Händen wird der Müll verlesen und sortiert – auch Krankenhausmüll ist dabei: Infusionsbeutel, Spritzen… Infektionskrankheiten sind deshalb an der Tagesordnung.
Das, was die „bessere Gesellschaft“ wegwirft, findet hier seinen Weg ins Recycling und sichert fast 60.000 Menschen ein Auskommen. Zudem leisten diese Menschen einen immensen Beitrag zur Müllbeseitigung von Kairo. Wir biegen um eine Ecke und dann geht’s noch ein Stück bergauf, bis wir durch einen gemauerten Torbogen treten. Er sieht fast aus wie ein Stadttor. Hier werden wir zum ersten Mal angesprochen. Wohin wir wollten, lautet die Frage. „Zu den Felsenkirchen“, antworten wir. „Anta Masihi?“ – „Ja, wir sind Christen.“ Wir dürfen weiter gehen. Unser Blick fällt auf eine gigantische Kalksteinwand, mit in Stein gehauenen biblischen Darstellungen. Vor über viertausend Jahren wurde hier aus den Bergen Material für den Bau der Pyramiden von Gizeh abgebaut. Danach blieben die Steinbrüche offen. Bereits im vierten Jahrhundert n. Chr. wurden in diese Steinbrüche Kirchen gebaut. In den 70er-Jahren begannen die Menschen mit deren Freilegung. Mit finanzieller Unterstützung der koptischen Christen entstanden bis heute sieben Kirchen, die heute zu einem religiöses Zentrum gehören. – Diese bedeutende Pilgerstätte zieht Christen aus ganz Ägypten an. Wir sind in einer anderen Welt – sauber gefegte Gehwege, umrahmt von schön angelegten Blumenrabatten.
Wir gehen in eine der Kirchen hinein. Eigentlich geht man nicht hinein, sonder eher hinunter. Stufen führen hinab zu einer Art Bühne, von der aus der Gottesdienst zelebriert wird. Die vielen Stufen sind Sitzplätze, ganz so wie in einem Amphitheater. Bis zu 15.000 Menschen können hier Platz finden. Da der große Felsvorsprung nicht genug Höhe bietet, hat man die beiden Kirchtürme davor gebaut. Sie stehen also frei – sozusagen vor der Kirche. Ich setze mich und schaue mich um. Auf der „Bühne“ sind mehrere Männer damit beschäftigt, den Parkettboden sauber zu halten. Ein weiterer ist mit einem Eimer Putz unterwegs und bessert kleine Risse und weggebrochene Ecken in den Sitzreihen aus. Drei Kinder sind uns wohl aus dem Ort gefolgt und wollen nun von mir wissen, wie ich heiße. Da sie außer „what’s your name“ nichts weiter auf Englisch sagen können und eigentlich auch kein Englisch verstehen, wird es eine lustige Unterhaltung. Immerhin wissen wir nach einer Weile von einander, wie wir heißen. Wir genießen noch eine geraume Zeit die wohltuende Ruhe in der Felsenkirche, bevor wir wieder hinaus – also hoch gehen. Auf dem Gelände sehen wir uns noch eine weitere Kirche an. Vor dieser steht – statt eines Kirchturms – eine große steinerne Halbkugel komplett mit Mosaiken verziert. Die blauen Steine funkeln hell in der Sonne. Hier sind auch innerhalb der Felsenkirche die Wände mit Steinmetzarbeiten verziert.
Neben dem Kircheingang laden Bänke und Sonnenschirme aus Palmwedeln zum Verweilen ein. Von hier oben hat man einen guten Überblick über das unter uns liegende Stadtviertel. Die Dächer der Häuser sind meterhoch mit Müll bedeckt, zum Teil noch in Säcke verpackt, zum Teil bereits sortiert. Auch überall zwischen den Häusern sind über eine Etage hoch Güter deponiert – die Lebensgrundlage der Menschen hier. Auf dem Rückweg durch den Ort entdecke ich noch viele fleißige Hände, die in dem System „Müll-Recycling“ beschäftigt sind. Ein Pick-up mit fein säuberlich gefalteten Kartons und zu Stapeln zusammengebündeltem Papier fährt an uns vorbei stadtauswärts. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich hier einer seiner Arbeit schämt. Ich empfinde Hochachtung vor diesen Menschen, die mit dieser Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Ich werfe meine leere Getränke-Dose in eine der Mülltonnen, mit der Gewissheit, dass sie zum Bestehen des „Grünen Punkts“ von Kairo beitragen wird.