Marrokko 2010 – Der Djemaa el-Fna in Marrakesch
Platz der Gaukler und Geschichtenerzähler
Reisebericht von Sybille Sarnow
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Er trägt einen weißen, langen Umhang und einen bunten, breitkrempigen Hut. Wollene Quasten in Rot, Grün und Gelb hängen ihm vom Hutrand ins Gesicht, und aus lebhaften wachsamen Augen blickt er über das Herz von Marrakesch. Das Geklapper mit seinen blankpolierten Messingtassen lockt die Kundschaft an. Jalil mit seinem Dreitagebart arbeitet in seiner traditionellen Zunfttracht als Wasserverkäufer auf dem Djemaa el-Fna, dem zentralen Marktplatz von Marrakesch, der bedeutendsten Königsstadt des marokkanischen Südens. |
Einst diente der Platz als Hinrichtungsstätte. Aus dieser Zeit stammen auch seine verschiedenen Namen, wie „Platz der Gehenkten“, „… der Geköpften“ oder „… der Toten“. Heute schlägt hier das Herz der Stadt. Morgens bieten die Obst-, Gemüse- und Gewürzhändler ihre Waren an. Auch die Handwerker verkaufen ihre Korbflechtereien, Eisenwaren oder Töpfereien.
Am Nachmittag ist dann die Zeit der Geschichtenerzähler, Wahrsager, Gaukler, Akrobaten und Schlangenbeschwörer. Innerhalb weniger Minuten verwandelt sich der Djemaa el-Fna in eine einzige orientalische Bühne. Tausende von Marokkaner lassen sich Tag für Tag von diesem Spektakel anziehen. Wer sich nicht gleich selbst in den Trubel stürzen will, kann von einer der umliegenden Restaurantterrassen aus das theatralische Schauspiel genießen.Eine Touristin aus Süddeutschland bestaunt das rege, fremdartige Treiben zunächst mit einem Fernglas aus sicherer Entfernung vom Café Haifa aus. Am andern Ende des Platzes bei den Orangenständen hat sich eine Menschentraube um eine imaginäre Rundbühne gebildet, auf der ein Geschichtenerzähler mit eindrucksvoller Gestik umstehende junge Männer mit vor Staunen offenen Mündern in seinen Bann zieht. Die Erzählkunst wird in Marokko hochgehalten.
Daneben lässt sich eine alte Frau mit weißem Kopftuch und langem grünem Gewandt beim Schreiber einen Brief verfassen. Ihr Gesicht ist dabei sehr ernst. „Es könnte sich um ein Behördenanschreiben handeln“, denkt sich die Touristin, „denn die Bürokratie Marokkos soll sehr mächtig sein.“ Rund 50 Prozent der Bevölkerung können weder lesen noch schreiben. Davon sind 80 Prozent Frauen.
Wo die Marokkaner zum Arzt gehen
Gerade lässt sich der Heiler unter dem großen rot-weiß-gestreiften Sonnenschirm die Wunde eines kleinen Jungen zeigen. Seine Mutter wickelte zuvor einen mit Blut verkrusteten Stofffetzen vom Arm. Der Heiler begutachtet, drückt hier und da um die Verletzungsstelle herum und entscheidet sich für einen kleinen blauen Salbentopf. Geld und Salbe wechseln die Besitzer, während der junge Verletzte bereits zu den Akrobaten in der Mitte des Platzes hüpft. Die meisten Marokkaner gehen heute noch zum Heiler mit seinen verschieden Kräutern, Pülverchen und wertvollen Ratschlägen, denn sie können sich einen teuren Arztbesuch nicht leisten.
Auch die Süddeutsche hat die Akrobaten von oben erblickt. Sie bilden menschliche Pyramiden, purzeln in kunstvollen Flugrollen übereinander. Daneben speit der Feuerschlucker die Flammen aus seinem Mund. Jetzt kann sie nichts mehr auf dem Stuhl halten. Das marokkanische Spektakel hat die Jurastudentin in seinen Bann gezogen. Auch sie wird Teil des quirligen Lebens auf dem Djemaa el-Fna. Die muskulösen Männer in ihren roten Samtkostümen sind in einer mystischen Bruderschaft organisiert, reisen durch das Land und verdienen sich mit ihren Vorführungen auf Marktplätzen den Lebensunterhalt. Sie sind auf Spenden angewiesen, kassieren keinen Eintritt.
Ein Restaurant der besonderen Art
Wenn dann die untergehende Sonne Marrakesch langsam in Zartrosa eintaucht, werden innerhalb kürzester Zeit Garküchen aufgebaut, und der ganze Platz verwandelt sich in ein riesiges Restaurant, eingehüllt in Dampfschwaden und orientalische Düfte. Vor allem Marokkaner essen hier die vielen landestypischen Köstlichkeiten. Es gibt gegrilltes Lamm, Salate, gegartes Gemüse bis hin zu Fisch und Meeresfrüchten, und das zu günstigen Preisen. Geschlossen hat die Küche erst weit nach Mitternacht.
Wasserverkäufer Jalil kassiert um 22 Uhr seine letzten paar Cent von zwei jungen durstigen Marokkanerinnen. Am besten verdient er allerdings als farbenfrohes Fotomodell für Touristen. Der Fünfzigjährige blickt zufrieden in seinen mit Silber beschlagenen Brust-Geldbeutel. Für ihn ist es jetzt Zeit nach Hause zu gehen. Es war ein langer Tag.