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Okt 5, 2019 | Europa

Spitzbergen – August 2019

Reisebericht von Franz Thoren

Dieses Mal sind Hildegard und ich ohne unseren treuen und langjährigen Begleiter unterwegs. Leoni steht einsam und verlassen zu Hause in der angemieteten Garage, denn bei unserer Tour können wir einen Camper beim
besten Willen nicht gebrauchen. Es geht in die europäische Arktis, nach Spitzbergen. Bei der Geographischen
Reisegesellschaft haben wir einen 19-tägigen Segeltörn rund um die Hauptinsel des Archipels gebucht.

Unser Schiff, die gecharterte Arctica II, ist mit etwa 20 Metern Länge sehr überschaubar und hat gerade mal
Platz für drei Mann Besatzung und neun Passagiere. Zimmerservice und Rundumversorgung gibt es nicht. Alle anstehenden Arbeiten wie Kochen, Abwaschen und Saubermachen sind reihum von allen zu erledigen. Unser sehr fähiger Reiseleiter ist Rolf Stange, ein ausgewiesener Spitzbergen-Experte.

 

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Am Nachmittag des 4. August 2019 verlassen wir den Hafen von Longyearbyen und beginnen unsere Tour. Es folgen knapp drei außerordentlich ereignisreiche Wochen mit Tageslicht rund um die Uhr. Schließlich befinden wir uns zurzeit hier oben im hohen Norden im Reich der Mitternachtssonne. In der Regel machen wir mit dem Zodiac täglich zwei ausgiebige Landausflüge, bei denen wir jeweils mehrere Stunden die Gegend durchstreifen und dabei oft Hügel oder Anhöhen besteigen. Denn von oben kommt die sehr abwechslungsreiche und eindrucksvolle Landschaft immer besonders gut zur Geltung. Unsere meistens zwei Begleiter haben bei allen Landgängen Gewehre dabei, denn Eisbären können überall und jederzeit auftauchen. Und mit Eisbären ist nicht zu spaßen.

Schon vor vielen Jahren haben wir auf Grönland von den Eskimos folgende Regel gelernt: Wenn sich Mensch und Eisbär in freier Natur begegnen, muss einer von beiden sterben. Es gilt also, vorsichtig zu sein.

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Die erste spannende Begegnung mit der arktischen Tierwelt haben wir in Poolepynten auf Prins Karls Forland.
Hier treffen wir zum ersten Mal überhaupt auf Walrosse. Diese gewaltigen Tiere waren früher in der Arktis fast allgegenwärtig, wurden dann aber bis an den Rand der Ausrottung bejagt. Seitdem sie unter Schutz stehen, erholen sich die Bestände wieder, wenn auch nur langsam. In Poolepynten sind relativ zuverlässig Walrosse anzutreffen. Eine vielleicht 20-köpfige Gruppe liegt am Strand, und einige Exemplare tummeln sich im Wasser. Wir positionieren uns am Ufer und beobachten die Tiere aus einiger Entfernung. Dabei verhalten wir uns ganz ruhig. Und ganz wie erwartet kommen die Walrosse im Wasser immer näher an uns heran, bis auf wenige Meter Entfernung. Sie sind generell extrem neugierig, was beim Zusammentreffen mit Menschen in der Regel nicht zu ihrem Vorteil war und die Jagd auf sie sehr erleichterte. Irgendwann wird es den Walrossen langweilig, und sie entfernen sich wieder.Auf dem weiteren Weg in den Nordwesten von Spitzbergen lernen wir ständig neue und immer wunderschöne und völlig menschenleere Berg- und Gletscherwelten kennen. Das Wetter zeigt sich von einer überraschend freundlichen Seite. Es herrscht weitgehend Windstille, die Sonne scheint, und die Temperaturen bewegen sich bei angenehmen fünf bis zehn Grad. Im phantastisch gelegenen Ny-Ålesund, der nördlichsten Siedlung auf Spitzbergen, treffen wir zum letzten Mal für zwei Wochenauf Ausläufer der Zivilisation. Danach gibt es bis Barentsburg ausschließlich
Natur und Einsamkeit, nur ab und zu unterbrochen durch meist unansehnliche, verfallene Relikte aus der Epoche der Jäger und Walfänger.

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Die Tierwelt ist für uns überraschend wenig präsent. Zwar gibt es wie schon beschrieben Walrosse und Eisbären, dazu Rentiere und Polarfüchse, verschiedene Walarten, Bart- und Sattelrobben, Breitschnabellummen und viele andere Seevögel, aber deren Häufigkeit hält sich mit Ausnahme der Breitschnabellummen doch sehr in Grenzen. So sehen wir beispielsweise in fast drei Wochen nur genau sechs Wale, zwei Belugas, drei Finnwale und einen Grönlandwal. Robben lassen sich nur ganz ab und zu blicken, und wenn, dann in quasi homöopathischen Dosen. Das war bei unserem Besuch in der Antarktis vor ein paar Jahren, speziell in Südgeorgien, völlig anders. Da kamen die lokalen Tierarten wie Robben, Seeelefanten
und Pinguine zu hunderten und tausenden vor. In geradezu unvorstellbaren Mengen. Der Raudfjord gilt als einer der schönsten Fjorde Spitzbergens. Schroffe Berge und Gletscher auf der westlichen, etwas weniger
schroffe Berge und zumindest teilweise eisfreies Land auf der östlichen Seite. Vormittags tuckern wir an der felsigen Westseite mit ihren vielen Gletschern entlang, und am Nachmittag landen wir am flachen Ostufer an. Es folgt eine vierstündige Wanderung den zumindest von unserem Reiseleiter Rolf so genannten „Puddingberg“ hoch. Von oben genießen wir bei strahlendem Sonnenschein phantastische Ausblicke auf die grandiose Landschaft. Und das hier, quasi am Ende der Welt, fernab jeder Besiedlung. Es ist einfach erschreckend. Besonders kritisch sind Netze und Taue, die offenbar von Fischereibooten stammen und wohl
kaum alle unbeabsichtigt „verloren gegangen“ sind. Immer wieder starten wir Aufräumaktionen und bringen vor allem die gefundenen Netze an Bord unseres Schiffes, wo sich dieses Material im Laufe unserer Reise immer weiter ansammelt und unsere Bewegungsfreiheit einschränkt. Nach der Rückkehr in den Hafen von Longyearbyen wird es dann in dafür vorgesehene Container entsorgt.

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Am nördlichsten Punkt der Reise

Unter Segeln geht es bei ziemlichem Seegang über den 80. Breitengrad und um Verlegenhuken herum. Kurz darauf erreichen wir den Sorgfjord und gehen am Eolusneset an Land. Das schöne Wetter liegt erst einmal hinter uns. Der landschaftliche Kontrast des polarwüstenhaft kargen, weitläufigen Landes um das Eolusneset herum gegenüber dem vergleichsweise vegetationsreichen Gebiet weiter westlich, aus dem wir gekommen sind, ist beeindruckend. Eine alte Trapperhütte und ein vergleichsweise großer Friedhof zeugen von der entbehrungsreichen Vergangenheit und passen sich gut in die triste Umgebung ein. Beim Blick in die Hütte sind wir erschüttert darüber, wie primitiv das Innere aussieht. Hier den dunklen arktischen Winter zu verbringen, erscheint uns geradezu unvorstellbar. Und doch haben immer wieder Menschen dieses Schicksal auf sich genommen.

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Das Wetter in der nördlichen Hinlopen­straße zeigt sich von einer eher unfreundlichen Seite, so dass wir zügig das Weite suchen und das Alkefjellet mit seiner gewaltigen Kolonie von Dickschnabellummen an der Ostküste der Hauptinsel Spitzbergens ansteuern. Ich schätze die Anzahl der Vögel auf vielleicht hunderttausend. Es ist ein über­wältigendes Spektakel. Das Wetter hat sich wieder etwas gebessert, und die See hat sich beruhigt.
Am nächsten Tag starten wir Richtung Osten, wo irgendwo die Eiskante auf uns wartet. Bis hoch zum Nordpol nur noch Eis: Treibeis, Eisberge, Eisschollen in allen Formen, Farben und Größen. Fantastisch schön! Einzelne Sattelrobben planschen im Wasser, und sogar ein seltener Grönlandwal lässt sich für einen Augenblick sehen. Nur die erhofften Eisbären machen sich weiterhin rar. Bisher haben wir nur ein einziges Exemplar zu Gesicht bekommen, allerdings nur aus relativ großer, fotografisch gesehen sehr unbefriedigender Entfernung.

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Der Grönlandwal ist der einzige Wal, der sich ausschließlich in arktischen Gewässern aufhält. Er kann bis zu 18 Meter lang und bis zu 100 Tonnen schwer werden. Er hat als einziger Wal keine Rückenflosse, da diese bei seiner Lebensweise im bzw. unter dem Eis nur hinderlich sein würde. Er kann bis zu 200 Jahre alt werden und war wegen seiner Langsamkeit eine sehr beliebte Beute der Walfänger. Dies führte fast zu seiner Ausrottung. Im Jahr 1931 wurde der Grönlandwal als weltweit erste Wild­tierart überhaupt vom Völkerbund unter Schutz gestellt. Durch Schutzmaßnahmen nehmen die noch sehr geringen Bestände langsam wieder zu. Weltweit gibt es schätzungsweise inzwi­schen wieder zwischen 5.000 und 8.000 Grönlandwale. Sich­tungen sind jedoch vergleichsweise selten. Wir haben somit ausgesprochenes Glück gehabt. Der gut fünfzig Kilometer lange Freemansund ermöglicht die Durchfahrt zwischen den großen Inseln Barentsøya im Norden und Edgeøya im Süden. Nach zwei Landgängen auf Barentsøya geht es weiter in den Freemansund hinein. Und kurz darauf wird das schon lange bestehende Eisbären-Defizit eindrucksvoll behoben.

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Zunächst entdecken wir einen einzelnen Eisbären, der aber nicht etwa am Ufer entlangläuft, sondern hoch oben im Berg herum klettert, schließlich den Bergkamm erreicht und auf dessen Rückseite verschwindet. Kurz darauf sehen wir drei weitere einzelne Bären, allerdings alle ziemlich weit weg.
Per Funk erhalten wir von einem entgegenkommenden Schiff die Info, dass ein Stück weiter eine Bärenmutter mit zwei Jungen im Hang liegt. Ein paar Minuten später finden wir diese Bärenfamilie tatsächlich schlafend nur wenige Meter vom Ufer entfernt. Unser Skipper tastet sich ganz nah ans Ufer heran und wirft Anker. Passagiere und Besatzung nehmen die ihnen am günstigsten erscheinende Beobachtungs- und Fotoposition ein, und wir alle warten. Und warten. Doch nichts passiert. Irgendwann, nach weit über einer Stunde, steht die Bärenmutter auf und marschiert zum Ufer, genau auf uns zu. Die beiden Jungen folgen notgedrungen. Somit hat sich das Warten definitiv gelohnt. Unser Skipper lichtet den Anker und folgt der Eisbärenfamilie, die kilometerweit immer brav am Strand entlang trottet. Wir immer dicht dabei. Es ist einfach nur toll. Etwas später wird noch ein weiterer Bär gesichtet, so dass wir heute auf insgesamt acht Eisbären kommen. Alle auf der linken Seite des Freemansunds, also auf Edgeøya. Wir übernachten in
der Diskobukta an der Westseite dieser großen Insel.

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Am nächsten Morgen herrscht leichtes Schneetreiben. Am Ufer halten sich unabhängig voneinander drei einzelne Eisbären auf. Mit unseren beiden Zodiacs fahren wir hin und lassen unser Schiff unbeaufsichtigt und leer zurück. Wegen des schlechten Wetters habe ich vorsichtigerweise nur die Unterwasserkamera dabei, was man wohl als Fehler sehen muss, denn zu große Vorsicht kann auch falsch sein. Es gelingt uns nämlich, einen der Eisbären über längere Zeit aus den Zodiacs heraus und aus kürzester Entfernung zu beobachten. Und mit der „richtigen“ Kamera wären sicher bessere Fotos dabei herausgekommen. Der Eisbär läuft am Ufer entlang, beobachtet uns hin und wieder interessiert, schwimmt dann durch eine kleine Bucht und schüttelt sich anschließend wie ein Hund das Wasser aus dem Fell.
Es folgen bei endlich wieder herrlichem Wetter noch zwei wunderschöne Landgänge auf Edgeøya, einer im Westen und einer im Süden der Insel. Von unserem Schiff aus entdecken wir schließlich auf dem Weg zum letzten Übernachtungsplatz vor Edgeøyanoch einen weiteren, den nun aber endgültig letzten Eisbären, so dass wir insgesamt auf exakt ein dutzend Sichtungen dieser majestätischen Tiere kommen. Am nächsten Tag geht es dann auf den langen Weg durch den Storfjordin Richtung Südspitze der Hauptinsel Spitzbergen. Das Wetter ist einfach nur toll, die See spiegelglatt. Wir halten Ausschau nach Walen und sind dabei auch erfolgreich. Drei Finnwale lassen sich sehen, zuerst zwei und später noch ein weiterer. Finnwale werden bis zu 24 Meter lang und sind nach den Blauwalen die zweitgrößte Walart. Sie sind vergleichsweise schnell und wurden deshalb früher kaum gejagt.

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Am südlichsten Punkt der Reise

Auf der Westseite von Spitzbergen angekommen haben sich zwei Dinge gravierend geändert, nämlich das Wetter und die Wassertemperatur. Zum Einen ist es stürmisch und ungemütlich geworden, und zum Anderen hat sich die Wassertemperatur durch den Einfluss des Golfstroms sprunghaft erhöht. An der Eiskante im Osten hatten wir als niedrigste Wassertemperatur -0,91 Grad Celsius gemessen. Jetzt liegt diese immerhin bei positiven 5 bis 6 Grad. Hyttevika wartet mit einer wunderschönen Küstenlandschaft, vielen schroffen Uferfelsen und saftig-grüner Tundra auf. Der Hit ist hier aber eine Polarfuchs-Familie mit drei verspielten Jungen, die uns längere Zeit beschäftigt und viel Freude bereitet. Unser Reiseleiter Rolf meint, dass es gut ist, dass die drei Jungfüchse noch nichts vom harten Polarwinter wissen.
Im Recherchefjord weiter nördlich gehen wir am Renardbreen an Land, schnallen uns Steigeisen unter und ziehen den fast spalten losen Gletscher hoch. Es ist das erste Mal, dass ich Steigeisen an den Füßen habe, dies bereitet mir aber überraschenderweise keinerlei Probleme. Kleine Schmelzwasserbäche zerfurchen die Gletscheroberfläche und verschwinden in tiefblau schimmernden Gletschermühlen. Die Gletschertour ist für viele von uns ein völlig neues Naturerlebnis.

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Begleitet von heftigem Sturm fahren wir weiter nach Norden. Es geht wüst auf und nieder. Bei ziemlich ungemütlichem Wetter erreichen wir die russische Siedlung Barentsburg, wo wir nach einem schwierigen Anlegemanöver an der Seite einer Danziger Yacht festmachen. In strömendem Regen laufen wir hoch zur Bar Krasniy Medved, dem Roten Bären, der angeblich angesagtesten Bar auf ganz Spitzbergen. Die gesamte Besatzung der Arctica II, Passagiere und Crew, ist mit von der Partie, und wir verbringen einen netten Abend mit in Barentsburg gebrautem, frisch gezapftem russischen Bier.Am Morgen findet bei wieder strahlen­dem Sonnenschein ein ausführlicher Rundgang durch Barentsburg statt. Rolf ist unser wie immer äußerst kenntnisrei­cher Guide. Einen besseren Reiseleiter als ihn habe ich bisher noch nirgendwo kennengelernt. Er macht das einfach ganz ausgezeichnet. Rolf ist Geograph und Geologe, lebt und arbeitet seit 20 Jahren auf Spitzbergen, kennt praktisch alle Zusammenhänge aus eigener Erfahrung und bleibt auf keine Frage eine Antwort schuldig. Dass sein in mehreren Sprachen erschienener Spitzbergen-Reiseführer der mit Abstand beste auf dem Markt ist, unterstreicht seine Kompetenz und rundet das Gesamtbild in ausgesprochen positiver Weise ab.

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Noch am Nachmittag des gleichen Tages schließt sich der Kreis. Nach über 2.000 zurückgelegten Kilometern legen wir wieder im Hafen von Longyearbyen an. Wir sind zurück am Ausgangspunkt.

Ein unvergessliches arktisches Abenteuer liegt hinter uns.